Bern, 22. Januar 2021 | Medienmitteilung

Interview mit Ministerin Nathalie Barthoulot, Präsidentin der SODK

Bild - Interview mit Ministerin Nathalie Barthoulot, Präsidentin der SODK

Keine Platzierung ohne Partizipation des betroffenen Kindes: Neue Empfehlungen von SODK und KOKES stärken die Rechte der Kinder. In der Schweiz sind derzeit schätzungsweise 18'000 Kinder in Pflegefamilien oder Heimen untergebracht. Die ausserfamiliäre Unterbringung wird von den betroffenen Kindern und Jugendlichen oft als Einschnitt in ihrem Leben empfunden. Um willkürliche Entscheidungen und damit eingehendes Leid zu verhindern, haben zwei interkantonale Konferenzen, die Sozialdirektorenkonferenz (SODK) sowie die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES), Empfehlungen erarbeitet, die Qualitätsstandards festlegen und die Bedürfnisse und das Wohl des Pflegekindes in den Mittelpunkt aller Entscheidungen stellen. Die Präsidentin der SODK, Ministerin Nathalie Barthoulot, erklärt, was sich mit diesen Empfehlungen konkret ändern wird.

Nathalie Barthoulot, waren die Empfehlungen notwendig, weil heute die Kindesschutzbehörden keinen guten Job machen?
Ich teile diese verallgemeinernde Einschätzung zum Wirken der Kindesschutzbehörden nicht, viele von ihnen sind sehr engagiert und leisten hervorragende Arbeit. Die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie ist jedoch oft eine schwierige Entscheidung, da der Wechsel aus dem gewohnten Umfeld längerfristig einen erheblichen Einfluss auf das Leben eines Kindes haben kann. Die Empfehlungen dienen als Orientierungsrahmen in der Praxis und erinnern uns daran, dass bei allen Fragen und Problemen, die in einem solchen Prozess aufkommen können, stets das Kind und seine Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen sind, und nicht andere Kriterien, wie beispielsweise finanzielle.

Sie sagen, die Arbeit der Behörden sei im Allgemeinen gut, aber es gibt schockierende Beispiele wie dasjenige des inzestuösen Vaters im Kanton Waadt.
Leider gibt es seltene, dramatische Fälle. Es ist mir nicht möglich, mich zu diesem speziellen Fall zu äussern. Aber ich bin überzeugt, dass unsere Empfehlungen dazu beitragen werden, die Situation insgesamt zu verbessern, da sie die Beteiligung des Kindes stärken und Verfahren etablieren, die unangemessene Entscheidungen vermeiden. Der Schutz von Kindern ist eine sehr schwierige und sensible Aufgabe. Wir greifen in die Privatsphäre von einzelnen Menschen ein, was nicht immer einfach ist und oft nicht gut ankommt.

Was ist der konkrete Inhalt der Empfehlungen?
Die Empfehlungen geben Antworten auf aktuelle Fragen, die den Verantwortlichen in den Kantonen besonders am Herzen liegen, wie z. B. die Partizipation von Pflegekindern oder Fragen der Begleitung, Bewilligung und Aufsicht, insbesondere von Pflegefamilien. Die Empfehlungen etablieren Qualitätsstandards. Sie halten die Akteure an, ihre Praxis zu reflektieren und das Wohl des Kindes ins Zentrum zu stellen. Wir haben insgesamt 42 Empfehlungen formuliert.

Wenige dieser Empfehlungen sind revolutionär. Die meisten von ihnen machen eher auf offenkundige Werte aufmerksam. Kann dieses Dokument wirklich die Prozesse verändern?

Die Platzierungspraxis hat sich in den letzten Jahren bereits stark verändert. Die Interessen der betroffenen Kinder werden heute besser berücksichtigt. Einige Kantone haben bereits moderne Standards eingeführt. Doch in diesem Bereich sind sowohl die Organisation als auch die Praxis von
einem Kanton zum anderen sehr unterschiedlich. Die SODK und die KOKES wollten ein Referenzdokument erstellen, das gute und bewährte Praktiken aufnimmt, das Fachwissen zusammenfasst und bestimmte Fragen klärt, die bisher nicht viel diskutiert wurden.

Welche Fragen?

Zum Beispiel der Begriff der Vertrauensperson. Dabei handelt es sich eigentlich um eine Regelung in der geltenden Verordnung, die vorsieht, dass jedem platzierten Kind eine Vertrauensperson zugewiesen wird, an die es sich bei Fragen oder Problemen wenden kann. Aus unserer Sicht ist es unerlässlich in freiwilligen wie in angeordneten Unterbringungssituationen zu prüfen, ob das Kind eine solche Person in seinem Umfeld hat. Doch diese Verordnungsbestimmung wird heute in der Praxis oft nicht angewandt, da die Akteure das Konzept als unklar erachten und sie befürchten, dass eine zusätzliche Person im Verfahren eher eine Belastung als eine Hilfe ist. In unserem Dokument haben wir die Aufgaben und die Rolle dieser Vertrauensperson präzisiert, das Ziel dieser Bestimmung erläutert und deren Umsetzung geklärt.

Welche Kantone haben in diesem Bereich eine Vorbildfunktion?

Wir haben keine Bewertung der Praktiken in den Kantonen durchgeführt. Das war nicht das Ziel der Übung. Wir konzentrierten uns auf jene Themen, wo die kantonalen Kindes- und Jugendschutzbehörden Probleme festgestellt hatten. In Bezug auf diese Themen haben wir
bestehende gute Praktiken recherchiert und auf dieser Grundlage die Empfehlungen erarbeitet.

Was ist die wichtigste Empfehlung für die SODK?
Für uns ist sehr wichtig, dass das Kind und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Alle anderen Überlegungen sind zweitrangig. Die Aufmerksamkeit muss auf das Kind gerichtet sein. Und das Kind hat Rechte. Es ist wichtig, dass es so früh wie möglich informiert wird und dass es während des
gesamten Prozesses und auch darüber hinaus begleitet wird. Eines der Grundrechte ist die Teilhabe an Entscheidungen, die es unmittelbar betreffen. Geeignete Prozesse müssen sicherstellen, dass es dieses Recht wahrnehmen kann. Die Achtung der Rechte des Kindes und die Partizipation sind für die SODK die wichtigsten Empfehlungen bei einer ausserfamiliären Unterbringung.