Sechs Jobs und kein coffee to go
Reporterin ohne Barrieren: Kim Pittet
Sanfte Pianomusik erklingt, es ist 6.20 Uhr – der Wecker holt mich zurück ins Hier und Jetzt. In eine Realität, in der ich in zehn Minuten bereits in die Rolle der Arbeitgeberin schlüpfen werde. Dann wird mich meine Assistentin Nadja bei meiner Morgenroutine unterstützen, damit ich pünktlich um 8.15 Uhr bei der Arbeit erscheine. Noch etwas schlaftrunken klicke ich mich durch mehr oder weniger witzige Katzen-Reels auf Instagram und quirlige Sprachnachrichten von Freundinnen und Freunden. Dann zeigt die Uhr 06:36 – wo steckt Nadja? Hat sie verschlafen oder gar den Dienst vergessen? Entnervt stürmt meine Assistentin einige Minuten später durch die Tür. Sie in einer Hektik, ich in müder Erleichterung – wir sind heute wohl nicht ganz in gleicher Stimmung.
Als Arbeitgeberin ist es mir wichtig, stets meinen Mitarbeitenden wertschätzend zu begegnen. Vor allem aus Dankbarkeit für ihre wertvolle Arbeit, die mir meine Selbständigkeit ermöglicht. Wohl unbewusst aber auch aus Abhängigkeit, denn ohne sie würde mein Morgen gar nicht erst beginnen.
So wie mir geht es auch 774* anderen Menschen im Kanton Bern, die mit einem Assistenz-Beitrag leben (Stand Dezember 2023). Das bedeutet: Sie haben Anrecht auf bezahlte Hilfeleistung in einer selbst gewählten Wohnform. Von den rund 5406* Personen, die in Bern Hilfslosenentschädigung beziehen und somit ihren Anspruch auf Assistenz prüfen lassen könnten, wohnt der grösste Teil jedoch nach wie vor in einer der 95** Berner Institutionen.
Am Wohnen in den eigenen vier Wänden hindern könnte sie u.a. der administrative und organisatorische Aufwand. Denn meine monatlichen 189 Assistenzstunden muss ich selbst mit der IV abrechnen, die diese dann rückvergütet. Arbeitsverträge und -pläne erstelle ich selbst, Teammeetings und geeignete Versicherungen organisiere ich eigenständig. Zusätzlich zu meinem erlernten Beruf als Kommunikationsfachfrau bin ich also Buchhalterin, Event Planerin, HR-Fachfrau, Seelsorgerin und Geschäftsleiterin – und das bereits mit 27! Ich wage zu behaupten, meine Karriere ist auf der Überholspur. Das Zertifikat und der Lohn dafür aber noch längst ausstehend. Ich muss mich vorerst mit der Erlangung meines Grundrechts zur frei wählbaren Wohnform begnügen.
Deshalb zurück zur echten Karriere: Der Toilettengang zuerst, dann Anziehen, Gesicht waschen, Make-up auftragen und losdüsen. Rund 90 Minuten benötige ich für diesen simplen Akt – und das nicht etwa wegen des Make-up‘s. Es ist jetzt 8 Uhr. Ein entspanntes Käffchen vor der Busfahrt? Keine Chance, die Zeit rennt! Mir eines To Go zu nehmen ist unmöglich, denn meine begrenzt verfügbaren Assistenzstunden erlauben mir nicht, eine persönliche Kaffeebecherheberin auf die Busfahrt mitzunehmen. Ich plange sehnlichst auf den Roboter-Barista der Zukunft, der mir diesen belebenden Zaubertrunk einflösst.
Also checke ich stattdessen wieder mein Handy. Eine Nachricht aus dem Assistenz-Chat mit rund elf Teilnehmenden ploppt auf: Andrea ist krank und muss den Bett-Dienst abtauschen. Ich ahne bereits jetzt, dass mich dieser Abtausch noch einige Stunden mental beschäftigen wird – wer bringt mich heute Abend wohl ins Bett zurück?
Quellen
*Erhalten durch Medienanfrage an IV-Stelle Kanton Bern