Nathalie Anderegg, 57 Jahre alt, lebt mit einer Form von Schizophrenie

Meine Beeinträchtigung ist eine schizo-affektive Störung. Das bedeutet: ich neige zu Psychosen und Depressionen.

Bei Radio Locomotivo und bei Reporter:innen ohne Barrieren bin ich als Journalistin tätig.
Ich spiele Cello in einer Rockband und einer Klezmer-Kapelle.
Meine Hündin Kascha begleitet mich fast überall hin.

Titelbild - Gastblog von Reporterin ohne Barrieren – Nathalie Anderegg

Meine Krisen:

Depressionen

Meine Depressionen begannen schon mit elf Jahren. Mit einer Depression ist schon der Gang zum Briefkasten so anstrengend, wie den Mount Everest zu besteigen. Alles, was vorher Freude machte, ist grau und sinnlos. Die Zukunft droht wie eine schwarze Gewitterwolke. Das Gesicht erstarrt, kein Lächeln ist mehr möglich. Die Kehle ist zugeschnürt vor lauter Trauer und Leid. Jeder Atemzug tut weh, körperlich und seelisch. Es ist, als stünde ein Elefant auf der Brust, der einem den Atem raubt. Mit einer schweren Depression kann man nicht leben. Man vegetiert dahin und möchte nur noch raus aus diesem Elend, egal wie.

Psychosen

Ganz anders fühlt sich eine schizophrene Psychose an: Ich höre Stimmen. Bei der ersten Psychose sagten sie, ich sei an allem Bösen in der Welt schuld, und warnten mich, die CIA sei hinter mir her und wolle mich umbringen. Ich war voller Todesangst und ständig auf der Flucht, bis ich in die psychiatrische Klinik eingeliefert wurde. Die Psychose ging langsam zurück und eine schwere Depression folgte.

Nach meiner Scheidung entstand die zweite Psychose. Sie hatte ein ganz anderes Gesicht als die Erste, darum erkannte ich sie sehr lange nicht. Keine Rede von Angst und Schuld, im Gegenteil: nun war ich stark, wurde von Geheimdiensten im Dienste des Guten rekrutiert, war ständig in telepathischem Kontakt mit Verstorbenen, Heiligen und Engeln. Ich konnte mit Tieren, Pflanzen und Steinen kommunizieren. Die Sterne erzählten mir Geschichten. Ich fühlte mich erleuchtet. Ich war nicht schuld am Unglück der Welt, sondern Teil ihrer Rettung. Als die Psychose nach einem Jahr in sich zusammen stürzte, 'bezahlte' ich wieder mit einer langen, schweren Depression.

Es war sehr schwer, wieder Vertrauen in meine eigenen Gefühle und Gedanken zu erlangen. Es kam immer wieder zu Klinikeintritten wegen psychotischen oder depressiven Symptomen. Ich fühlte mich der Krankheit hilflos ausgeliefert.

Recovery

Dann kam ich in Kontakt mit dem Konzept Recovery. Endlich Hoffnung. Recovery bedeutet, dass man lernen kann, mit den Symptomen umzugehen, Rückfälle zu vermeiden und trotz der Erkrankung ein gutes Leben zu führen. Das bedeutet für mich, dass ich Stress so gut wie möglich vermeide. Denn Stress ist ein Nervengift, das mich krank macht.

Meine Rezepte gegen Stress:

  • Achtsam mit mir selbst umgehen

  • Reizüberflutung vermeiden

  • Rechtzeitig auf die Bremse treten

  • regelmässig Auszeiten nehmen

  • niemals Multitasking

  • Lernen, Nein zu sagen und Termine abzusagen ohne schlechtes Gewissen

  • Nichts übertreiben, den Mittelweg gehen.

Dank der IV-Rente, den richtigen Medikamenten und einer guten psychiatrischen Begleitung kann ich ein erfülltes Leben führen.

Die Erfahrung, dass ich wieder genesen kann, gibt mir Geduld, psychische Krisen zu überstehen. Geduld ist eine leise, aber enorm kraftvolle Ressource. Wer sie hat, kann fast alles überstehen.