Interview mit Dr. Isabel Martínez
"Vererbt sich Familienarmut?"
Nicola Forster spricht im SODTalK mit Dr. Isabel Martínez über das Thema Familienarmut. Sie zeigt auf, wie stark sich Vermögen auf die Lebenswege ganzer Generationen auswirken – von frühen Bildungschancen bis hin zur Vererbung von Reichtum. Isabel Martínez plädiert für Investitionen in Bildung und Kinderarmutsbekämpfung als Fundament einer gerechten Zukunft.

Frau Dr. Martínez, prägt Familienarmut schon früh die Lebenswege von Kindern?
Das ist tatsächlich so. Wir wissen aus Studien aus verschiedenen Ländern, dass Armut auch die kognitive Entwicklung von Kindern beeinträchtigt. Das zeigt sich dann bei der Sprache, aber auch in der Mathematik und im sozialen Verhalten. Kinder in Armut weisen häufig eine langsamere Entwicklung auf, haben dadurch häufiger Schwierigkeiten in der Schule, was sich dann eben weiterzieht auf ihrem Lebensweg, zum Beispiel beim Einstieg in die Arbeitswelt.
Ihre Forschung zeigt, dass wir in der Schweiz noch nie so reich gewesen sind und gleichzeitig haben wir aber eine grosse Ungleichheit. Können Sie das vielleicht erläutern?
Vielleicht zuerst: Die Vermögen haben in der Volkswirtschaft sehr stark an Bedeutung zugenommen. Die Privatvermögen in der Schweiz sind inzwischen ungefähr achtmal so hoch wie das Bruttoinlandprodukt. Bis noch etwa 2010 betrug dieser Faktor während rund 100 Jahren nur fünf.
Die Vermögen sind also im Vergleich zu den Einkommen sehr stark gewachsen und sie sind sehr viel ungleicher verteilt als die Einkommen. Zudem sind die Vermögen auch noch ungleicher verteilt, als sie das zum Beispiel vor 20 Jahren waren. Die Vermögensschere geht somit auch auseinander. Zusammen ergibt sich dieses Bild: Ja, wir sind so reich wie noch nie, aber wir sind auch so ungleich wie noch nie, insbesondere was die Vermögensverteilung angeht. Die Einkommensverteilung hat zwar auch zugenommen, aber deutlich weniger.
Können Sie uns sagen, wie dieser Wohlstand über die Generationen weitergeht? Also auch mit Blick auf das Thema Vererbung: Gibt es quasi Dynastien, die entstehen, weil Reiche immer Leuten, die auch schon Geld haben, wieder Geld weitergeben?
Tatsächlich ist es so, dass Personen die höchste Wahrscheinlichkeit haben zu erben, wenn sie selber auch schon reich sind und zu den vermögenden Personen gehören. Das zeigt sich übrigens auch in der Bilanz Liste der «300 Reichsten in der Schweiz»: Etwa 60 Prozent dieser Reichsten sind Erbinnen und Erben. Über die letzten 30 Jahre war dieser Anteil immer äusserst konstant.
Ist das in anderen Ländern anders?
Ja, tatsächlich. In den USA waren es Ende 80er Jahre auch etwa 60 Prozent, aber der Anteil der Erbinnen und Erben unter diesen superreichen Amerikanerinnen und Amerikanern ist auf etwa 30 Prozent zurückgegangen. Heute sind unter den Top 10 Reichsten in den USA alles Selfmade Billionäre, von Warren Buffett bis hin zu Jeff Bezos und Elon Musk.
In der Schweiz sind unter den Top 10 nur drei Selfmade, die restlichen sind Erbinnen und Erben. Also sehen wir: Diese Familiendynastien, insbesondere die ganz an der Spitze der Vermögensverteilung, kommen aus Erbschaften.
Was hat das für gesellschaftliche Konsequenzen aus Ihrer Sicht?
Ich denke, in dieser Sphäre des Superreichtums ist es eine Frage nach der Akzeptanz dieser Vermögenswerte. Hohe Vermögen und Vermögensungleichheit werden eher akzeptiert, wenn sie auf Erfindertum und Gründertum zurückgehen, als wenn einem das einfach in die Wiege gelegt wird. Umgekehrt ist dann auch die Frage: Was bedeutet das für all jene, die nie etwas erben werden? Wenn sie indirekt vermittelt bekommen: In der Schweiz schaffe ich es kaum noch zu solchem Reichtum, wenn ich nicht selbst schon die richtigen Startbedingungen hatte. Diese Message passt nicht zu einer meritokratischen Gesellschaft.
Das ist spannend, aber dabei geht es vor allem ums Vermögen. Wie sieht es denn beim Einkommen aus? Da haben wir in der Schweiz doch gar keine so schlechte Mobilität.
Tatsächlich, insbesondere wenn wir uns die Arbeitseinkommen anschauen. Da haben wir lange Reihen von AHV-Daten, die weit zurückreichen.
Wir sehen, dass die Einkommensmobilität in der Schweiz hoch ist, auch im internationalen Vergleich. Also die Wahrscheinlichkeit, dass die Personen selber einmal einen anständigen Lohn haben, egal woher sie aus der Einkommensverteilung stammen, ist hoch.
Das ist interessant, weil wir bei der Bildungsmobilität international eher im Mittelfeld stehen: Die Wahrscheinlichkeit, an eine Uni zu gehen, hängt immer noch sehr stark vom Einkommen und vom Bildungsstand der Eltern ab. Das duale Bildungssystem scheint jedoch gut zu funktionieren, sprich: auch mit einem Lehrabschluss ist es möglich, später im Leben gut zu verdienen. Es braucht nicht immer einen Uniabschluss. Der Schweizer Arbeitsmarkt scheint hier sehr gut zu funktionieren, in diesem Zusammenspiel mit dem dualen Bildungsweg.
Und wie gross ist der Anteil des Einkommens an die Vermögen? Kann man sagen, das ist ähnlich? Entweder wählt man den einen Weg über das Einkommen oder den anderen Weg, mit dem Vermögen weiterhin Geld zu verdienen? Oder wie sind da die Proportionen?
Für die meisten ist schon das Arbeitseinkommen der Weg, wie man sein Leben bestreitet. Die Personen, die den Lebensunterhalt aus dem Vermögenseinkommen bestreiten können, gehören typischerweise zum Top-1-Prozent der Reichsten. Für die allermeisten Leute, auch für Leute, die sehr gut verdienen, ist es das Arbeitseinkommen, das wichtig ist. Ausser das Top-1-Prozent der gesamten Einkommensverteilung: dort oben sind es Kapitaleinkommen, die einschenken, und Löhne sind anteilsmässig oft nicht mehr so wichtig. Aber das ist eine sehr kleine Gruppe, die von diesen Kapitaleinkommen leben kann.

Was verstehen Sie unter Chancengerechtigkeit, auch das Thema der intergenerationellen Mobilität? Werden diese Chancen weitergegeben oder entstehen neue Chancen für nächste Generationen?
Ich glaube, Chancengleichheit ist so zu verstehen, dass jeder und jede die Möglichkeit hat, ihr volles Potenzial zu entfalten. Das heisst nicht, dass alle müssen – die Freiheit soll da sein. Wenn jemand talentiert und gescheit ist, soll diese Person, wenn sie das möchte, die Möglichkeit haben, an eine Uni zu gehen. Dies, ohne sich überlegen zu müssen: Kann sich das meine Familie leisten oder sollte ich besser jetzt schon arbeiten, damit ich zum Einkommen beitragen kann, usw.
Das ist ein Aspekt. Aber z. B. auch die Frage, wenn ich aus einer Familie mit Migrationshintergrund komme, habe ich realistischerweise überhaupt fairerweise denselben Zugang zum Gymnasium? Wie sind die Hürden, dass ich das schaffe, weil ich mich ganz spezifisch vorbereiten muss auf eine Gymnasialprüfung? Ich denke jetzt an Kantone wie Zürich, wo die Aufnahmeprüfung jedes Jahr ein grosses Thema ist. Habe ich überhaupt den «richtigen» familiären Hintergrund? Wissen meine Eltern, wie und wie früh man sich auf diesen Weg vorbereiten muss? In Zürich oder in anderen Kantonen, die dieses System mit selektiven Prüfungen anwenden, hängt viel davon ab, dass ich dieses Insiderwissen habe, weil ich nur mit der richtigen Vorbereitung auf ein Gymnasium komme. Idealerweise ist der Zugang so geregelt, dass sichergestellt ist, dass breite soziale Schichten in das Gymnasialsystem reinkommen.
Solche Aspekte sind wichtig für die Chancengleichheit. Finanzielle Aspekte, z. B., wie viel man später verdient, sind ein Teil, aber ich glaube, Chancengleichheit und soziale Mobilität sind breiter zu verstehen und umfassen z. B. eben auch die Möglichkeiten und Zugang zu Bildung.
Man kann pointiert sagen, dass sowohl Reichtum wie auch Armut vererbt werden. Wie kann man aus dieser Vererbung von Armut ausbrechen?
Ich glaube, der Schlüssel ist hier schon auch Bildung. In der Schweiz haben wir das Glück, dass nicht nur eine universitäre Bildung aus der Armut führt. Aber einen Abschluss zu haben ist zentral, denn Bildungsabschlüsse werden im Schweizer Arbeitsmarkt sehr hoch gewichtet.
Es ist wichtig, dass man eine Lehre abschliesst. Vielleicht wechselt man später den Beruf, aber dass man einen Lebensweg aufzeigen kann, der zeigt, ich habe irgendwann mal einen Pflock eingeschlagen, ich habe diese Lehre gemacht und sie abgeschlossen. Schwierig wird es, wenn viele Unterbrüche da sind – etwas anfangen, wieder aufhören… Ich verstehe das, es gibt viele Umstände, die dazu führen, dass jemand z. B. eine Lehre wieder abbricht. Ich glaube jedoch, dass das kritische Momente sind, wo man schauen muss, dass jemand ein Kapitel sauber abschliessen kann, bevor das Nächste kommt und sich so eine gewisse Stetigkeit aufbaut.
Wünschen Sie sich etwas spezifisch von Politik und Gesellschaft, um diese Armut von Familien, von Kindern zu bekämpfen?
Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass sich ein Investment in das Thema lohnt. Denn alle Kinder, egal ob aus reichen oder armen Haushalten, sind die Gesellschaft der Zukunft. Sie werden die Gesellschaft bilden, in der wir einmal alt werden. Letztendlich muss das Ziel sein, dass jedes Kind so aufwächst, dass es später eigenständig und resilient als Person in dieser Gesellschaft «funktionsfähig» ist, aber auch die Möglichkeit hat, ein erfülltes Leben zu führen und zu dieser Gesellschaft beizutragen. Ich glaube, da sind wir alle in der Pflicht, für diese Gesellschaft von morgen zu schauen.
Herzlichen Dank, Frau Dr. Martínez.
Dr. Isabel Z. Martínez leitet die von ihr gegründete Forschungssektion „Verteilung und öffentliche Finanzen“ an der ETH Zürich. Sie forscht zu Einkommens- und Vermögensungleichheit, Steuerpolitik und individuellen Reaktionen auf Steuern, z.B. durch Anpassung des Arbeitsangebots oder Wohnortswechsel, sowie zu sozialer Mobilität. Dr. Martínez promovierte 2016 an der Universität St. Gallen und war zwischenzeitlich beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund tätig. Seit 2018 ist sie zudem Mitglied der Eidgenössischen Wettbewerbskommission.
Nicola Forster ist Unternehmer, Gründer des Staatslabors sowie des aussenpolitischen Think Tanks foraus. Er setzt sich seit Jahren für eine weltoffene Schweiz ein. Als ehemaliger Präsident der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) kennt er auch die sozialen Anliegen. Ihm liegt es am Herzen, den Dialog zu pflegen und so führt als Moderator regelmässig durch Gespräche wie auch die SODTalKs der SODK.