Interview mit Claudia Schwarz
Claudia Schwarz Farhat lebt in materieller Armut. Generalsekretärin Gaby Szöllösy hat sie zuhause besucht und zum Gespräch getroffen.
Im SODTalK erzählt Claudia Schwarz, wie sich Armut auf Gesundheit, Beziehungen und den Alltag auswirkt und warum sie stolz darauf ist, es ohne Sozialhilfe geschafft zu haben.
Claudia Schwarz, Sie sind eine der Porträtierten auf unserer Fokusseite Familienarmut. Sie leben in materieller Armut. Jetzt kam gerade ein Armutsmonitoring heraus, das die Armut als mehrdimensionales Phänomen beschreibt. Interessiert Sie so ein Bericht?
Ja, das interessiert mich sehr. Ich habe auch schon reingeschaut, hatte aber noch nicht so viel Zeit, um mir alles anzusehen. Das werde ich sicher noch nachholen. Die verschiedenen Porträts finde ich sehr spannend. Sie zeigen auch noch andere Seiten von Armut, nicht nur die materielle.
Der Bericht bestätigt: Armut bedeutet nicht nur, zu wenig Geld zu haben, sondern es sind noch andere Bereiche tangiert, z.B. die Gesundheit, die soziale Teilhabe und weiteres. Würden Sie das für sich auch so sehen?
Absolut. Ich glaube, dass das eine das andere nach sich ziehen kann, gerade was Krankheiten anbelangt. Man muss nicht mal selbst krank sein, es können z.B. Kinder oder Angehörige betroffen sein. Man konzentriert sich auf die Pflege der Angehörigen und kann nicht so viel arbeiten, dadurch hat man weniger Geld.
Haben die Herausforderungen in Ihrer Familie letztlich auch zur materiellen Armut geführt?
Ja, absolut. In meinem Fall ist es so, dass meine drei Kinder alle Einschränkungen und Beeinträchtigungen mitbringen. Eine solche Begleitung als Mutter braucht einfach Zeit.
Viele Betroffene können dadurch weniger am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Wie haben sie das erlebt?
Das kann ich voll unterschreiben, das war bei mir auch so. Ich habe viel Zeit für die Pflege meiner Kinder gebraucht und natürlich für die Arbeit. Da hat die Energie gefehlt, um noch gross Kontakte zu pflegen oder in den Ausgang zu gehen.
Waren Sie bei der Erziehung Ihrer Kinder überwiegend auf sich gestellt?
Teilweise, der Vater war schon da. Er hatte auch am Wochenende ab und zu die Kinder bei sich. Aber für die schulischen, therapeutischen und medizinischen Belange war ich im Lead. Ich war auch immer die Ansprechperson für alle. Zusammen mit meinem damaligen Pensum von 60 %, war ich da voll beschäftigt. Ich konnte gar nicht mehr arbeiten, da alles so wahnsinnig viel Zeit brauchte. Doch mit einem Lohn von 60% kann man die Lebenskosten eigentlich gar nicht decken.
Sie hätten zur Sozialhilfe gehen können, als sogenannte Working Poor, also als Person, die trotz Arbeit unter dem Existenzminimum lebt. Warum haben Sie das nicht gemacht?
Ich war immer sehr knapp an der Grenze zum Existenzminimum. Wenn man den Freibetrag eingerechnet hätte, also den Teil des Erwerbseinkommens, den man trotz Sozialhilfe behalten darf, wenn man arbeitet, wäre ich tatsächlich darunter. Aber dieser Freibetrag wird erst eingerechnet, wenn man schon bei der Sozialhilfe ist. Das ist eine etwas komplizierte Sache.
Ich muss sagen, es war auch nicht mein Ziel, von der Sozialhilfe abhängig zu sein. Es ist keine angenehme Situation, sich dort zu rechtfertigen und erklären.
Heute bin ich sehr stolz darauf, dass wir es ohne Sozialhilfe geschafft haben.
Wie haben Sie sich organisiert?
Ich habe immer gearbeitet, meist Teilzeit, und zusätzlich in den letzten beiden Jahren eine nebenberufliche Selbstständigkeit aufgebaut. Langsam geht es bergauf. Ich muss mir beim Einkaufen nicht mehr überlegen, ob ich mir jetzt noch ein paar Mandarinen leisten kann oder eben nicht. Das tut unheimlich gut. Es ist ein tolles Gefühl, sagen zu können: Ich habe es geschafft.
Aber es war ein intensives und anstrengendes Leben. Was ist auf der Strecke geblieben?
Vielleicht ich selbst zwischendurch. Meine Freizeit, mir selbst etwas Gutes zu tun. Dafür gab es keine Zeit. Ich hatte aber nicht einmal die Zeit, darüber nachzudenken. Deshalb fehlte es auch nicht wirklich. Zudem war ja dafür auch kein Geld da. Wenn ich mal etwas Geld übrighatte, habe ich den Kindern etwas Gutes getan bzw. etwas gekauft, das nötig war.
Woran konnten Sie sich aufrichten?
An meinen Kindern. Wenn ich gesehen habe, welche Fortschritte sie machen und was wir wieder gemeinsam geschafft haben, hat mich das getragen.
Meine beiden Söhne haben heute einen tollen Job, an dem sie Freude haben, und gehen gerne zur Arbeit. Ich habe noch nie gehört, dass sie keine Lust haben. Das macht mich wahnsinnig stolz. Ich hatte und habe auch sehr viel Glück. Das Verhältnis zu meinen Kindern ist sehr gut. Selbst mein ältester Sohn, der bereits ausgezogen ist, kommt jede Woche vorbei und ruft mich regelmässig an. Das ist ein sehr schönes Gefühl.
Gibt es dann auch positive Aspekte der Armut? Das klingt jetzt vielleicht fast ein wenig zynisch. Aber führt materielle Armut beispielsweise dazu, dass man in der Familie enger zusammengeschweiss ist?
Ja, ich denke schon, dass Armut zusammengeschweisst. Gerade auch mein ältester Sohn hat mit 30 einen anderen Blick auf das Ganze als meine 18-jährige Tochter und mein 20-jähriger Sohn. Er sagt oft, er bewundere, wie ich das gemacht habe. Ich glaube, auch er selbst hat einen anderen Blick auf das Leben. Und dass eben nicht alles so selbstverständlich ist. Ich sehe das auch bei mir. Ich glaube, ich bin heute schon sehr viel dankbarer für vieles, was vielleicht für den einen oder anderen einfach so gegeben ist.
Sie sagen, es gehe aufwärts, da Sie nun bei einer Versicherungsfirma arbeiten. Was gibt Ihnen das für ein Gefühl?
Ich arbeite mittlerweile 80 % bei dieser Versicherungsgesellschaft. Und ich arbeite nebenberuflich in der Selbstständigkeit. Das sind auch noch mal mindestens 20 %. Das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Mein Bankkonto ist mittlerweile Ende Monat nicht immer bei Null oder sogar im Minus bzw. irgendwelche Kreditkarten belastet. Es ist eine extreme Erleichterung, wenn man einfach mal ein bisschen Geld auf der Seite hat. Wie gesagt, ist es einfach schön, wenn man mal etwas in sein Einkaufs-Körbchen legen kann, was nicht unbedingt nötig wäre.
Das ist dann, was Sie sich selbst zugestehen?
Ja, genau. Einfach mal einkaufen gehen. Z.B. gehört bei mir zum Dezember «guetzle». Früher musste ich mir überlegen, ob ich mir jetzt die gemahlenen Mandeln noch leisten kann. Heute kann ich wirklich einfach mal etwas mitnehmen, was mir gerade so in den Sinn kommt. Und ich kann «guetzle» bis zum «Gehtnichtmehr». Das tut mir gut.
Ferien sind zwar im Moment immer noch kein Thema. Ich muss aber auch ehrlicherweise sagen, dass mir das nicht unbedingt fehlt.
Sie wohnen in einer kleinen Wohnung. Wir sitzen hier quasi in der Küche. Gleich daneben befindet sich die Wohnzimmerecke und in eine andere Ecke ist durch ein Büchergestell Ihr Schlafbereich abgetrennt – alles in einem Raum. Sie haben das sehr schön eingerichtet. Aber würden Sie sich eine grosse Wohnung wünschen?
Manchmal wäre es schon schön, eine Tür zumachen zu können und seine Ruhe zu haben. Aber ich habe auch schon erzählt: Das hier betrachte ich als Probewohnen für ein Tinyhouse. Ich finde es schön, sich in einer kleinen Wohnung so einzurichten, dass man sich wohlfühlt, dass es ein wenig kuschelig ist.
Wenn man Armut als gesellschaftliches Phänomen betrachtet, und Sie wissen, es gibt ja viele arme Leute in der Schweiz, was würden Sie ihnen raten?
Niemals aufzugeben, versuchen, sich Hilfe zu holen. Ich glaube, es sind auch immer individuelle Geschichten. Ich hätte mir selber auch immer wieder gewünscht, dass man mich wirklich als Einzelfall sieht und mich in der Situation berät, in der ich bin. Teilweise hatte ich das Gefühl, das kommt etwas zu kurz, ich bin eine Nummer im System.
Aber ich hatte schon auch immer wahnsinnig viel Glück. Dass plötzlich wieder Menschen in mein Leben kamen, die mich unterstützt haben. Oder mein Arbeitgeber, der mir ermöglichte, noch eine Ausbildung zu machen (und im Homeoffice zu arbeiten).
Das Wichtigste ist, immer dranzubleiben und nicht einfach aufzugeben.
Wenn Sie jetzt sagen, Sie hätten sich gewünscht, dass man Sie als Einzelfall etwas individueller sieht und berät. Ist das eine leise Kritik an den staatlichen Behörden? Haben sie hier Verbesserungspotenzial?
Ich finde, da gibt es noch viel Luft nach oben, gerade bei Ämtern und Versicherungen. Ich hätte mir oft einen menschlicheren, einfühlsameren Ton gewünscht. Von Empathie ist zwar überall die Rede, aber sie wird häufig nicht gelebt. Es würde schon helfen, wenn einem etwas mehr Entgegenkommen gezeigt wird. Es tut enorm gut und motiviert, wenn man verstanden und wenn die eigene, schwierige Situation ernst genommen wird.
Fühlten Sie sich denn öfters allein?
Es gab immer wieder Situationen, in denen ich mich allein fühlte, manchmal sogar ein bisschen schikaniert oder unverstanden. Ich gab immer meinen Einsatz, ich versuche alles. Trotzdem kamen da teilweise Äusserungen, die wirklich etwas schwierig waren zu verdauen. Ich würde schon sagen, dass ich mich grösstenteils selbst aus dem Ganzen herausgekämpft habe. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir da so wahnsinnig viel Unterstützung entgegenkam.
Wie hat Ihr Umfeld auf Ihre materielle Armut reagiert?
Ich würde mal so sagen: Mein Umfeld ist mit der Zeit geschrumpft. Man hatte gar keine Zeit sein Umfeld gross zu pflegen. Zudem war es so, dass ich ein Kind hatte, das oft sehr unruhig war. Es wurde so fast unmöglich, soziale Kontakte zu pflegen. Die wenigen Menschen, die mir geblieben sind, waren dafür umso verständnisvoller und hilfsbereiter. Es gab z.B. auch immer wieder mal eine Einladung zum Abendessen auswärts. Das lag sonst gar nicht drin. Solche Gesten tun «cheibeguet», und man schätzt und geniesst sie viel mehr, als wenn sie einfach selbstverständlich wären.
Vielen Dank Frau Schwarz für das Gespräch und Ihre Offenheit.
Porträts Familienarmut
Armut hat nicht ein Gesicht – sondern viele.
In dieser Porträtreihe begegnen wir Menschen, deren Lebenswege unterschiedlich sind. Ihre Geschichten zeigen, was Armut im Alltag bedeuten kann.

